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Die Zisterzienser und das Mittelalter

Haina ist ein Ort, an dem man gut für eine Weile in die Gedanken- und Erfahrungswelt des Mittelalter eintauchen kann. Die Kirche, der Kreuzgang und die übrigen Klosterbauten bieten dafür den perfekten Rahmen. Vor 800 Jahren, als die Zisterzienser mit dem Bau ihres Gotteshauses begannen, hatten die Menschen eine völlig andere Sicht auf die Welt als heute. Jeder Augenblick des Daseins war von religiöser Sinngebung und Bedeutung durchdrungen, jede Handlung dem Bewusstsein von der Gegenwart und Allmacht Gottes untergeordnet. Im frühgotischen Kirchenbau ist dieser Geist des Mittelalters bis heute gegenwärtig.

„Gott ist Licht“

Der Stil der Gotik entwickelte sich aus dem 1140 errichteten Chor und dem Westbau der Abteikirche von Saint Denis bei Paris. Der Abt Suger als Bauherr stellte bei der Planung komplexe theologische Überlegungen an, eine seiner Thesen war: Gott ist Licht. Jedes Geschöpf werde der göttlichen Erleuchtung teilhaftig, die als Band der Liebe die ganze Welt durchflute. Im Sinne dieser mystischen Ästhetik des Lichts drängte Suger seine Baumeister, die Fenster zu vergrößern und mehr Sonnenlicht in den Kirchenraum einströmen zu lassen.

Geniale bautechnische Neuheiten

Möglich wurde dies, weil die beteiligten Architekten und Handwerker in genialer Weise eine Reihe bautechnischer Neuerungen kombinierten. In der voraufgegangenen Stilepoche der Romanik hatte man den Gotteshäusern massive Wände gegeben und Nischen oder Fenster mit runden Bögen abgeschlossen. Jetzt öffnete man die Mauern, verdünnte und erhöhte sie und entwickelte den gotischen Spitzbogen. An die Stelle der eher plumpen Tonnengewölbe traten schlanke Rippen, die ein Kreuz bildeten. Alles strebte himmelan in die Höhe, durch die großen Fenster fiel das Sonnenlicht, alles wirkte leichter und erhabener. Um die Deckenlast abzufangen, umgab man die Pfeiler mit Bündeln vorgelagerter Säulchen, so genannter Dienste, und leitete den Druck auch nach außen über die typisch gotischen Stütz- und Strebebögen ab.

Vom Rundbogen zum Spitzbogen

Im Kloster Haina lässt sich dieser Übergang genau studieren. Als die „weißen Mönche“ 1215 den Kirchenbau begannen, setzten sie im Erdgeschoss noch romanische Rundbögen ein. Im zweiten Bauabschnitt, ab 1235, verfuhren sie schon nach den neuen Maßstäben der Gotik und bauten im oberen Teil Spitzbögen ein. Auch andere Details wie die abnehmende Dicke der Wände oder die Ablösung der Kreuzpfeiler durch Rundsäulen zeigen den Stilwandel an. Stütz- und Strebebögen allerdings verwandte man noch nicht.

Das Ideal der Einfachheit

Mit dankenswerter Deutlichkeit offenbart die Kirche in Haina auch die Besonderheit der zisterziensischen Weltsicht und Lebenspraxis, die sich gewissermaßen in architektonische Gestaltung übersetzte. Jene 20 Mönche, die sich 1098 in Cîteaux (lat: Cistercium) in Burgund von Benediktinern abspalteten und eine eigene Abtei und damit auch den Zisterzienser-Orden gründeten, taten dies aus dem Empfinden heraus, dass die Klöster jener Zeit zu reich und mächtig geworden seien und dass ihre Angehörigen die vom Ordensgründer Benedikt postulierten Ideale der Einfachhheit und der Armut verraten hätten. Die Reformer erhielten riesigen Zulauf, in kürzester Zeit wurden zahlreiche Filialen gegründet. Um 1150 gehörten dem neuen Orden, den das einmal jährlich tagende Generalkapitel aller Äbte von Cîteaux aus straff steuerte, schon 333 Abteien an, darunter Haina. 100 Jahre später waren es 647 in ganz Europa.

Entwickler und Erschließer

Jede einzelne Niederlassung in diesem weiten Netz war für die betreffende Region ein Entwicklungsfaktor ersten Ranges, nicht nur durch die Verbreitung und Vertiefung des christlichen Glaubens. Auch ökonomisch, sozial und kulturell erlangten die Klöster eine Bedeutung, die über ihre heutige Rolle weit hinausging. Mönche und Nonnen waren keine Randfiguren, sondern hoch angesehen und gehörten zur Oberschicht, zumal sich ihnen zeitweise vor allem jüngere Söhne und Töchter von Adligen anschlossen. Getreu ihrem Vorsatz der Weltentsagung ließen sich die Zisterzienser fernab der Städte und ihrer Verlockungen in einsamen Gegenden nieder und strebten nach völliger Eigenständigkeit sowie nach Selbstversorgung durch eigener Hände Arbeit. Oft waren sie die ersten, die unwegsames Ödland überhaupt erschlossen.

Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft

Dabei bildete sich in den Abteien bald eine Zwei-Klassen-Gesellschaft heraus. Die Priestermönche lebten überwiegend dem Gebet und dem Gottesdienst. Intensiv beteten sie zum Beispiel für das Seelenheil jener adligen Damen und Herren, die ihnen zu diesem Zwecke Land und andere Güter oder Einkünfte vermachten. „Das christliche Mittelalter leistete sich Mönche, damit diese für die anderen Menschen beteten“, schreibt der Hamburger Historiker Prof. Hans-Werner Goetz. Es war harte Arbeit: sieben Mal am Tag versammelte man sich zum Stundengebet, beginnend um zwei Uhr in der Nacht und endend mit dem Abendgebet und der Nachtwache.

Getrennte Schlafräume

Die Arbeit auf dem Acker, im Wald, auf der Weide oder an den Fischteichen dagegen besorgten derweil auf den so genannten Grangien (Gutshöfen) die Laienbrüder (Konversen), die hinter den anderen zurückzustehen hatten. In Haina wie anderswo hatten sie zu den Klausur-Räumen und zum Kreuzgang keinen Zutritt, sie hatten auch eigene Schlafräume und einen eigenen Zugang zur Kirche, ein kleines Türlein. Beim Gottesdienst waren sie von der Priesterkaste durch eine Chorschranke separiert. Diese Chorschranke ist in Haina bis heute erhalten – eine Rarität, die in Deutschland sonst nur noch das Kloster von Maulbronn vorzuweisen hat. Außenstehende waren bei den Gebeten und Messen nicht unbedingt erwünscht, für die Seelsorge war die Kirche ja nicht gedacht. Nach außen führt deshalb kein großes Portal, sondern nur eine kleine Tür.

Vom Schlichten zum Reichtum der Formen

Das Ideal der Einfachheit und Armut geriet im Laufe der Zeit, als der Orden immer reicher und einflussreicher wurde, auch bei den Zisterziensern ins Hintertreffen, und interessanterweise spiegelt sich dies auch architektonisch wider. Betrachtet man den historischen Gang der Bauarbeiten in der Hainaer Kirche im Detail, dann wird „die langsame Abkehr vom anfänglichen zisterziensischen Rigorismus hin zu einem größeren Formenreichtum erkennbar“, wie der Historiker und Theologe Dr. Arnd Friedrich festgestellt hat. Der Autor, der mehrere grundlegende Werke über das Kloster verfasst hat und viele Jahre auch Pfarrer in Haina war, nennt als Beispiele die Säulen-Kapitelle, die Schlusssteine und die Konsolen der Dienste. Waren sie anfangs noch in schlichten pflanzlichen Formen gefasst, so setzte man später Figuren an ihre Stelle, beispielsweise die Symbole der vier Evangelisten oder die Köpfe von Tieren und Monstern, die das Böse abschrecken sollten.

Kostbare Glasfenster und Chorstühle

Ähnlich stellt sich die Entwicklung der Fenster dar: erst verwendete man für die kleinteiligen Glasscheiben nur simpelste Formen und Grautöne, dann wurden sie immer bunter und prächtiger – und immer großartiger der Lichteffekt. Gleichwohl bleibt in Haina nach dem Urteil von Arnd Friedrich „trotz der Pracht des gewaltigen Detailreichtums letztlich der Eindruck der zisterzienischen Schlichtheit vorherrschend“. Dies gibt der Kirche ihre eigentümliche Prägung, zumal viele der kostbaren Glasfenster noch aus der Gründerzeit, dem 13. Jahrhundert, stammen, ebenso wie ein Teil des Chorgestühls. Aus dieser frühen Epoche datiert auch die so genannte Hasenglocke. Auf ihr sind drei Hasen eingraviert, die sich in einer Dreiecksstellung zu einander befinden - deshalb gelten sie als Symbol der Dreifaltigkeit. 

Im Stil der Frühzeit

Auf freigelegte Materialien der Frühzeit geht auch die höchst aparte und dezente Farbgebung des Kirchenraums zurück. Sie wurde bei einer umfassenden Restaurierung zwischen 1982 und 2012 bewusst im Ton der Überlieferung gehalten, der Kirchenraum sollte keine Wiederauferstehung „in neuem Glanze“ erleben, wie der zuständige Oberkonservator am Landesamt für Denkmalpflege Hessen in Marburg, Dr. Bernhard Buchstab, betont. „Die Klosterkirche in Haina nimmt aufgrund ihrer Architektur, ihres Raumeindrucks, der Farbigkeit und der Lichtführung in Verbindung mit den Glasfenstern eine herausragende Stellung in der Architekturgeschichte ein“, schreibt Buchstab in einem Buch, das die Restaurierung bilanziert. Für ihn ist das frühgotische Gotteshaus „eines der bedeutendsten und großartigsten Werke hochmittelalterlicher zisterziensischer Baukunst“. Der heutige Besucher erlebt den Raum genau so wie die Menschen in Mittelalter: es gibt in der Kirche kein elektrisches Licht und keine Heizung. Weshalb das Gebäude auch nur im Sommerhalbjahr zugänglich ist.

Spuren der Zisterzienser

Ein Aufenthalt in Haina kann auch zum Nachdenken darüber anregen, welche weiteren Spuren die Zisterzienser in der Geschichte hinterlassen haben. Zweifellos hatten sie einen wichtigen Anteil an der Entwicklung der mittelalterlichen Land-, Forst- und Teichwirtschaft, desgleichen am so genannten Landesausbau, der Kultivierung unerschlossener Gebiete. In Buchmalereien werden die „weißen Mönche“ wiederholt beim Roden von Wäldern dargestellt. Ihre Arbeitsethik war im Mittelalter etwas revolutionär Neues, sie lag quer zum damaligen Feudalsystem und etablierte im europäischen Denken quasi eine Art religiös motivierten Leistungsprinzips. Nicht zuletzt half der Orden, eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften seines Mutterlandes Frankreich im Rest Europas zu verbreiten: die gotische Kathedrale.