Die vergessenen Schwestern
Eine Forschergruppe der Uni Kassel um Prof. Dr. Martina Sitt rückt jetzt die Frauen der berühmten Malersippe Tischbein neu ins Licht
Das bisher überlieferte öffentliche Bild von der berühmten Malerfamilie um den Goethe-Porträtisten Johann Heinrich Wilhelm Tischbein bedarf einer Korrektur. Aus der im hessischen Kloster Haina ansässigen Familie gingen nach neuen Untersuchungen einer Kasseler Forschergruppe nicht nur rund 16 namhafte männliche Künstler hervor, sondern auch zehn Künstlerinnen. Sie waren zu ihrer Zeit, vor etwa 200 Jahren, ebenfalls als Malerinnen anerkannt, doch wurde ihr Wirken im 19. Jahrhundert in den Hintergrund gedrängt, wie die Kasseler Kunsthistorikerin Prof. Dr. Martina Sitt jetzt im Hessischen Rundfunk erklärte.
Über ein Jahr erforschte eine Gruppe aus Master-Studierenden und Mitgliedern der sogenannten Bürger-Universität an der Universität Kassel unter Leitung von Prof. Dr. Sitt das Wirken der Frauen der Tischbeins im Zeitraum von 1770 bis 1830. In Archiven und Museen in ganz Deutschland bis hin nach Dänemark und Italien konnte nun hinreichend Material aufgespürt werden, um die Biographien von zehn Künstlerinnen der Epoche weitgehend zu rekonstruieren. „Sie wurden einst gelobt und sind heute völlig vergessen“, erklärte Martina Sitt.
Unter den zahlreichen Bildern, die von Sammlern als Werke der Familie Tischbein aufbewahrt werden, sind einige, die von den Malerinnen stammen, aber als Teil der Schöpfungen des „Team Tischbein“ im Laufe der Jahre nur mehr den männlichen Verwandten zugerechnet wurden. Auch die Depots der Museen bergen unter dem Aufkleber „Tischbein Umkreis“ noch einige interessante Stücke.
Die überraschenden Funde werden nun in Facsimiles in einer Ausstellung mit dem Titel „Aufgedeckt - Malerinnen im Umfeld Tischbeins und der Kasseler Kunstakademie 1777-1830“ inszeniert und der Öffentlichkeit im Kloster Haina bei Bad Wildungen vorgestellt, wo der Stammvater der Familie, Johann Heinrich Tischbein (1683-1764), einst als Bäckermeister tätig war.
Seine Ehefrau Susanne Margarethe geb. Hinsing (1690-1772) pflegte ihre Kinder und Enkel abends am Familientisch im Zeichnen und Handarbeiten zu unterrichten und legte damit offenbar den Grundstock für die außergewöhnliche Entwicklung ihrer Sprösslinge. Zu den männlichen Nachkommen zählten neben Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829), der 1787 in Rom das berühmte Bild von Johann Wolfgang Goethe in der Campagna malte, noch 15 weitere namhafte Künstler, darunter der Kasseler Hofmaler Johann Heinrich Tischbein (1722-1789) und der Leipziger Akademie-Direktor Johann Friedrich August Tischbein (1750-1812).
Zu den weiblichen Angehörigen der Tischbeins, die nach der Heirat ihren Vaternamen aufgaben, zählten unter anderen Wilhelmine Caroline Amalie von Apell (1757-1838), Caroline Wilken (1783-1843), Betty Kunze (1787-1867), Magdalena Margareta Strack (1763-1836), Henriette Louise Tischbein (1766–1840) und Sophie Roentgen (1761-1826). Einige von ihnen bewegten sich auch in dem Kreis der Frauen, die 1777 in Kassel vom Landgrafen Friedrich II. erstmals in Europa zu einer Kunstakademie zugelassen wurden – eine geradezu revolutionäre Idee, die aber vier Jahre später schon wieder zurückgenommen wurde.
Die Ausstellung „Aufgedeckt“ wird am Sonntag, dem 24. April 2016 mit einem Vortrag von Prof. Dr. Martina Sitt eröffnet werden und dann bis in den Herbst zu sehen sein. In Zusammenarbeit mit dem Verein der Freunde des Klosters Haina, der die Besucher der historischen Anlage betreut, hatte die Kasseler Hochschullehrerin bereits im Jahr zuvor eine Ausstellung über den Lebensweg des Goethe-Malers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein ausgerichtet. Diese hatte starken Zuspruch des Publikums gefunden.