Die Malerfamilie Tischbein
Geschichte eines Aufstiegs
Die Kunsthistorikerin Caroline von der Osten-Sacken gibt in einem neuen Buch erstmals einen biographischen Überblick über die gesamte Sippe – Bilder, Anekdoten und Erläuterungen
Es war einmal ein Bäcker mit seiner Frau, die hatten zwei Töchter und sieben Söhne. Fünf von ihnen zogen in die Welt hinaus und wurden Maler. Alle neun Geschwister hatten wiederum Söhne und Töchter, auch von ihnen wandten sich etliche der Kunst zu. Es klingt wie ein Märchen, aber es ist eine wahre Geschichte: Aus der Familie des Kloster-Bäckers Johann Heinrich Tischbein (1683-1764) und seiner Frau Susanna Margaretha (1690-1772) sind in drei Generationen mehr als zwei Dutzend namhafte Maler und Malerinnen hervorgegangen. Vom nordhessischen Haina aus verbreiteten sie sich in halb Europa und waren an mehr als 30 verschiedenen Orten tätig. Gleich mehrfach ist der Name Tischbein in die deutsche Kunstgeschichte eingeschrieben.
In einem neuen Buch gibt nun die Kasseler Kunsthistorikerin Caroline von der Osten-Sacken erstmals einen detaillierten biographischen Überblick über das Leben und Schaffen dieser Dynastie, die eine ähnliche Häufung von Talenten aufweist wie die thüringische Musikerfamilie Bach. Die Autorin kuratiert seit Jahren eine jährlich wechselnde Ausstellung zum Schaffen der Tischbeins im Kloster Haina. Ihr Werk, herausgegeben vom Verein der Freunde des Klosters Haina, erfasst im Ganzen nicht weniger als 42 Künstlerinnen und Künstler. Es wird am 5. November in Haina und in Kassel vorgestellt, am 12. November auch in Bad Arolsen.
„Das Schaffen der zahlreichen Familienmitglieder gibt einen guten Überblick über die unterschiedlichen Berufszweige der Kunst und steht damit exemplarisch für die Aufgaben von Künstlern und Künstlerinnen im 18. und 19. Jahrhundert“, schreibt die Autorin. Am höchsten angesehen und am besten bezahlt waren damals die Historienmaler, die Szenen aus der Geschichte sowie antike und christliche Mythen illustrierten. Zu ihnen gehörten der Kasseler Hofmaler Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722-1789) und sein Neffe Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829), der durch sein Porträt von Johann Wolfgang Goethe in der Campagna bei Rom berühmt wurde. Als Porträtist reüssierte auch dessen Cousin Johann Friedrich August Tischbein (1750-1812), der Friedrich Schiller, Martin Wieland und andere Prominente seiner Zeit malte, bis hin zum niederländischen und russischen Hochadel. Auf Landschaften spezialisierte sich Ludwig Philipp Strack (1761-1836), ebenfalls ein Vetter des „Goethe-Tischbein“.
Andere Angehörige der Sippe, unter ihnen auch etwa ein halbes Dutzend Frauen, malten Tiere, Blumen oder ländliche Idyllen, einige waren auch Kupferstecher, Porzellanmaler oder Architekten. Zu den Schöpfungen der Großfamilie zählen deshalb auch Veduten (Ansichten) etwa von der Porta Westfalica und der Stadt Triest sowie Porzellan-Dekore, eine wissenschaftliche Mondkarte und die Berliner Siegessäule.
Es war eine Mischung aus Zufall, Ehrgeiz, Glück, Talent und Fleiß, die den einzelnen Künstlern ihren Aufstieg ermöglichte. „Vor allem aber führte die gegenseitige Unterstützung zum Erfolg“, resümiert Caroline von der Osten-Sacken. Valentin Tischbein (1715-68), der als erster aus Haina hinauskam und in Frankfurt eine Lehre als Tapetenmaler begann, leitete seine jüngeren Brüder an und beschäftigte zwei von ihnen als Lehrlinge. Später wurde der Aufstieg Johann Heinrich Tischbeins d. Ä. zum Kasseler Hofmaler und Akademiedirektor zum Vorbild des Erfolgs. In seiner Werkstatt erhielten mehrere Neffen ihre Ausbildung, seine Empfehlungen ebneten ihnen den Weg. Stipendien und Fürsprachen adliger Gönner ermöglichten es in der Folge einer ganzen Reihe der Künstler, ihre Ausbildung in Amsterdam, Den Haag und Paris oder Venedig, Rom und Neapel zu vervollkommnen und dort zu arbeiten. Die so erworbenen Fähigkeiten wandten sie dann mit Erfolg an deutschen Fürstenhöfen und in deutschen Städten an, teilweise auch in anderen Ländern.
So kommt es, dass Gemälde von Angehörigen der Tischbein-Sippe heute in bekannten Museen nicht nur in Frankfurt, Weimar, Leipzig, Oldenburg oder Eutin zu sehen sind, sondern auch in Amsterdam, Neapel und St. Petersburg. Auch in ihrer nordhessischen Heimat sind die Tischbeins gut vertreten. Die meisten Werke befinden sich im Besitz der staatlichen Gemäldesammlungen von Hessen Kassel Heritage und hängen etwa in den Schlössern Wilhelmshöhe und Wilhelmsthal. Wichtige Werke verschiedener Maler der Familie Tischbein präsentieren aber auch die Stiftung des Fürstlichen Hauses Waldeck und Pyrmont im Schloss von Bad Arolsen sowie die Kulturstiftung des Hauses Hessen im Schloss Fasanerie in Eichenzell bei Fulda. Der Ursprungsort Haina, im Landkreis Waldeck-Frankenberg zwischen Frankenberg und Bad Wildungen gelegen, verfügt nur über ein einziges Bild, das der „Kasseler Tischbein“ Johann Heinrich d. Ä. kurz vor seinem Tod 1789 der heimatlichen Pfarrgemeinde schenkte. Es zeigt eine Szene mit Christus am Ölberg.
Der zündende Funke für die beachtliche Zahl künstlerischer Karrieren und Erfolge wurde nach den Erkenntnissen der Autorin Caroline von der Osten-Sacken zweifelsohne im Kloster Haina geschlagen. Die mittelalterliche Zisterzienser-Abtei war in der Epoche der Familie Tischbein bereits seit zwei Jahrhunderten in ein Kranken- und Armenhospital umgewandelt. Der Stammvater Johann Heinrich Tischbein war der Hospital-Bäcker und schreinerte nebenher, seine Frau gab Näh- und Stickunterricht und leitete ihre Kinder und Enkel auch zum Zeichnen und Malen an, wenn diese sich in der Bäckerwohnung in der Obersten Mühle versammelten. Diese Anregungen dürften „ausschlaggebend gewesen sein“, so Caroline von der Osten-Sacken. Vor allem die Mutter Susanna Margaretha geb. Hinsing, Tochter eines Schlossers und Uhrmachers aus Bingenheim in der Wetterau, habe bei ihren Söhnen und Töchtern die Kreativität gefördert. Einer von vielen glücklichen Zufällen war es dann, dass Valentin Tischbein 1729 in der Klosterkirche beim Abzeichnen einer Skulptur von einem Darmstädter Hofbeamten entdeckt wurde, der ihm eine Malerlehre verschaffte.
In ihrem Buch mit dem Titel „Die Malerfamilie Tischbein – Geschichte eines Aufstiegs“ zeichnet Caroline von der Osten-Sacken die Lebensläufe und das Schaffen von insgesamt 42 Angehörigen der Sippe detailliert nach. Neben den großen Namen finden sich in der Übersicht auch weniger bekannte Künstlerinnen und Künstler, die teilweise Mühe hatten, ihren Lebensunterhalt als Zeichnerinnen, Kunststickerinnen oder Miniatur- und Vedutenmaler zu verdienen. Erfasst sind auch die angeheirateten Mitglieder der Familie Tischbein, die künstlerisch tätig waren. Über manche von ihnen gibt es nur sehr spärliche Informationen.
Das 144 Seiten umfassende Werk ist üppig mit Abbildungen von Gemälden der beschriebenen Künstlerinnen und Künstler ausgestattet. In übersichtlicher und anschaulicher Form werden außerdem bestimmte Fachbegriffe erläutert, Anekdoten erzählt oder Original-Texte sowie der historische Hintergrund präsentiert, sodass das Buch nicht nur für Fachleute eine reichhaltige Fundgrube darstellt. Es erscheint Ende Oktober im Michael-Imhof-Verlag in Petersberg bei Fulda und kann in allen Buchhandlungen oder beim Verein der Freunde des Klosters Haina in Haina erworben werden (www.klosterhaina.de).
Schon für Anfang November 2023 sind mehrere Veranstaltungen geplant, bei denen das Werk der Öffentlichkeit in Haina, Kassel und Bad Arolsen übergeben wird. In Kassel präsentieren die Autorin und die Herausgeber das Werk gemeinsam mit dem dortigen Museumsverein am Sonntag, dem 5. November, um 11:30 Uhr in einer Matinée im Flora-Saal von Schloss Wilhelmshöhe. Am selben Tag um 16:00 Uhr wird das Buch auch im Kloster Haina (Winterkirche) vorgestellt. Eine dritte Veranstaltung ist gemeinsam mit der Stiftung des Fürstlichen Hauses Waldeck und Pyrmont für Sonntag, den 12. November, 14:00 Uhr, im Steinernen Saal des Schlosses von Bad Arolsen vorgesehen.
An allen drei Orten wird die Autorin Caroline von der Osten-Sacken jeweils ausgewählte Textpassagen vortragen und verschiedene Gemälde präsentieren, anschließend gibt sie im Gespräch mit dem Journalisten Klaus Brill weitere Erläuterungen. Der Eintritt ist frei. In Bad Arolsen findet im Anschluss eine Sonderführung zu mehr als einem Dutzend Tischbein-Gemälden statt, die in dem historischen Barockschloss aufbewahrt werden. Dafür wird eine Gebühr von jeweils acht Euro pro Person erhoben.
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Caroline von der Osten-Sacken, Die Malerfamilie Tischbein – Geschichte eines Aufstiegs, Michael-Imhof-Verlag St. Petersberg, 2023