Ein Selfie wie vor 200 Jahren
Bei der Ausstellung über den Maler Johann Friedrich August Tischbein können Besucher sich kostümieren und in eine Porträt-Sitzung einfühlen – Gute Resonanz nach der Corona-Krise
Nach der Zwangspause wegen der Corona-Krise werden im Kloster Haina die frühgotische Klosterkirche und die alljährlich wechselnde Ausstellung über die Malerfamilie Tischbein wieder gut besucht. „Die Resonanz des Publikums ist stark, wir sind sehr zufrieden“, erklärte der Schatzmeister des Vereins der Freunde des Klosters Haina, Gerhard Döring. Seit der Eröffnung der Ausstellung, die auf den 20. Juni 2020 verschoben werden musste, hätten überdurchschnittlich viele Interessierte die mittelalterliche Anlage aufgesucht. „Es kamen mehr Leute als zu normalen Zeiten, offensichtlich gab es einen gewissen Nachholbedarf“, erklärte Gerhard Döring.
Die Ausstellung in einem Nebenraum des Kreuzganges ist in diesem Jahr dem Maler Johann Friedrich August Tischbein (1750-1812) gewidmet, der in der Zeit um 1800 ein in ganz Europa bekannter und gefragter Porträtist war. Er war ein Cousin des so genannten „Goethe-Tischbeins“ Johann Heinrich Wilhelm (1751-1829), der in Rom das bekannte Bild von Johann Wolfgang Goethe mit hellem Mantel und großem Reisehut geschaffen hatte. Die Künstlersippe umfasste im ganzen mehr als zwei Dutzend Malerinnen und Maler. Ihr Stammvater war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Kloster Haina als Bäcker tätig.
Die besondere Leistung des nun vorgestellten Johann Friedrich August Tischbein lag darin, dass er die porträtierten Persönlichkeiten nicht wie früher in steifer, repräsentativer Aufmachung zeigte, sondern in einer natürlichen, ungezwungenen Haltung, wie bei einem Schnappschuss. „Statt konventionelle Posen und charakteristische Attribute zu zeigen, konzentrierte sich Tischbein auf die Gesichter. Diese spiegelten Gefühle wider und entsprachen damit dem neuen Ideal der Empfindsamkeit“, sagt die Kasseler Kunsthistorikerin Caroline von der Osten-Sacken, die die Ausstellung kuratiert hat. „Das war ein großer Unterschied zum Standesporträt, und diese neue Art der Darstellung fand eine ungeheuer starke Resonanz.“
Wie die porträtierten Personen sich dabei gefühlt haben mögen, können die Besucher in der Ausstellung spielerisch nachempfinden. Caroline von der Osten-Sacken hat nach historischen Vorlagen eine Reihe typischer Kleider der Zeit um 1800 genäht und lädt dazu ein, diese Gewänder anzuziehen und in dieser historischen Kostümierung ein Selfie aufzunehmen oder ein Foto schießen zu lassen. „Man merkt dabei, wie viele Entscheidungen ein Maler beziehungsweise ein Fotograf treffen muss, um ein Porträt von einem Menschen zu schaffen, das diesem auch gerecht wird und ihn in seinem Wesen erfasst. Es sind genau dieselben Überlegungen, die auch Johann Friedrich August Tischbein vor mehr als 200 Jahren anstellen musste“, sagt Caroline von der Osten-Sacken.
In der Ausstellung, die noch bis zum 1. November täglich außer montags von 11 bis 17 Uhr geöffnet ist, wird über die Malweise und den Lebensweg des Malers informiert, Reproduktionen zeigen einige seiner typischen Werke. Johann Friedrich August Tischbein wurde wie sein Cousin, der Goethe-Maler, vom gemeinsamen Onkel Johann Heinrich August Tischbein d. Ä. (1722-1789) ausgebildet und gefördert, der Hofmaler des Hessischen Landgrafen in Kassel war und dort auch die neu gegründete Kunstakademie leitete.
Danach kam der junge Mann, der als Sohn von Johann Valentin Tischbein (1715-1768) in Maastricht geboren war, in die Obhut des Fürsten Friedrich zu Waldeck und Pyrmont. Dieser ermöglichte ihm eine Ausbildung bei namhaften Malern in Paris, Rom und Neapel und beschäftigte ihn danach als Hofmaler in Arolsen. Zwischenzeitlich war Johann Friedrich August Tischbein auch oft in Amsterdam und Den Haag tätig. Spätere Stationen seiner Karriere waren Dessau, Weimar, Berlin und St. Petersburg, von 1800 bis zu seinem Tod 1812 leitete er die Kunstakademie in Leipzig.
Die Erarbeitung der Ausstellung wurde vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie vom Landkreis Waldeck-Frankenberg finanziell unterstützt.
Alle Besucher werden gebeten, Schutzmasken für Mund und Nase mitzubringen und hinreichend Abstand zu anderen Menschen zu wahren. Dies gilt insbesondere auch für die Führungen durch die Kirche, die Klosterbauten und die Tischbein-Ausstellung, die in diesem Jahr durchgehend bis zum 1. November an jedem Sonntag um 14 Uhr stattfinden. Treffpunkt ist jeweils am Klosterladen im Kreuzgang der Hainaer Anlage. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.